Primaten als Grundrechtsträger: Überlegungen zum ersten bundesgerichtlichen Tierrechtsurteil
Urteilsbesprechung 1C_105/2019 Bundesgericht, I. öffentlich-rechtliche Abteilung, Urteil 1C_105/2019 vom 16. September 2020, Heiner Vischer et al. gegen Deborah Ness et al., Zulässigkeit der kantonalen Volksinitiative «Grundrechte für Primaten»
In seinem Entscheid vom 16. September 2020 hat sich das Bundesgericht erstmals mit der Frage der Rechtsträgerschaft von Tieren (statt bloss des Tierschutzes) befasst und die im Kanton Basel-Stadt lancierte Initiative «Grundrechte für Primaten» für gültig erklärt. Im vorliegenden Beitrag setzen sich die Autoren, welche die Primateninitiative auf Seite der Initianten und Initiantinnen juristisch bis vor Bundesgericht in beratender Funktion begleitet haben, mit dem Entscheid kritisch auseinander. Besonderes Augenmerk wird auf die Finanzierung der Beschwerde, die praktische Tragweite der geforderten Grundrechte für Primaten und den Vorwurf der Betreibung reiner Symbolpolitik gelegt.
Inhaltsübersicht
- I. Sachverhalt
- II. Erwägungen des Bundesgerichts
- 1. Beschwerderecht
- 2. Prüfmassstab und Kognition des basel-städtischen Initiativrechts
- 3. Zur Rechtsnatur der geforderten kantonalen Grundrechte für Primaten und zu deren Vereinbarkeit mit übergeordnetem Recht
- 4. Anwendung der Auslegungsgrundsätze auf die Initiative mit Blick auf deren Verfassungskonformität
- III. Bemerkungen
- 1. Zur Möglichkeit einer De-facto-Behördenbeschwerde und Zulässigkeit der Finanzierung der Bundesgerichtsbeschwerde durch den Kanton
- 2. Eine Initiative mit praktischer Wirkung …
- 3. … und symbolischem Charakter
- 4. Grundrechte: Zweck, nicht nur Mittel
- 5. Zur «grundsätzlichen Unterscheidung» zwischen Menschen- und Primatengrundrechten
- 6. Schlussbemerkungen
I. Sachverhalt
Im Juni 2016 lancierte der Basler Think-Tank «Sentience Politics» eine Initiative zur Änderung der basel-städtischen Kantonsverfassung (KV-BS)1.2 In Absatz 1 normiert der bestehende § 11 der Verfassung mit dem Titel «Grundrechtsgarantien» unter anderem das Recht auf Leben (Bst. a), das Verbot der Folter (Bst. c), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Bst. e) und das Recht auf Hilfe in…