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Aus der Zeitschriftrecht 1/2011 | p. 49–52Es folgt Seite №49

Rechtswissenschaft als Beruf**

1. Was tun eigentlich die Rechtsprofessoren und -professorinnen?

Max Weber, der berühmte deutsche Soziologe, hat 1919 einen vielbeachteten und immer noch lesenswerten Vortrag über «Wissenschaft als Beruf» gehalten.1 Obwohl er gelernter Jurist war und seine wissenschaftliche Karriere an der Juristischen Fakultät in Berlin begann,2 hat er auf die spezielle Situation des Rechtswissenschaftlers nicht näher Bezug genommen. Dies möchte ich hier nachholen, wobei mir bewusst ist, dass ich das Thema in der kurzen mir zugemessenen Zeit lediglich anreissen kann.3 Klärungsbedarf besteht zweifellos. Im nicht akademisch vorgebildeten Publikum, aber selbst bei Kolleginnen und Kollegen der anderen Fakultäten, bestehen über den Beruf des Rechtswissenschaftlers nämlich tatsächlich oft nur sehr nebelhafte Vorstellungen. Andere Juristenberufe sind ohne Weiteres vertraut: Man kennt die Anwälte, Staatsanwälte, die Richterinnen und Richter, man begegnet ihnen alltäglich in den Medien, bis hin zu erfolgreichen Filmen und Fernsehserien. Aber was tun eigentlich die Rechtswissenschaftler, die Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren, die ganze Zeit? Zweifellos, sie sind Lehrer, sie halten Vorlesungen, aber auch dies nur acht Stunden in der Woche, und sie quälen die Studentinnen und Studenten mit ihren Prüfungen. Aber was tun sie sonst? Was tun sie vor allem während der langen Semesterferien? Wahrscheinlich nicht allzu viel: Ausschlafen, Skifahren vielleicht oder in den Süden reisen!

Ich habe scherzhaft übertrieben. Zumindest Sie, liebe Absolventinnen und Absolventen, wissen, dass Ihre Professorinnen und Professoren auch schriftstellerisch tätig sind, dass sie Gesetzeskommentare verfassen, Lehrbücher schreiben, vielleicht auch Monografien, Aufsätze in Fachzeitschriften und Anmerkungen zu Entscheidungen des Bundesgerichts. Auf diese publizistische Tätigkeit der Rechtswissenschaftler möchte ich im Folgenden näher eingehen, denn sie ist – neben der Lehrtätigkeit und einer angemessenen Beteiligung an der universitären Selbstverwaltung – sozusagen ihr «Kerngeschäft» und beschäftigt sie, um das gerade erwähnte Vorurteil sofort richtigzustellen, natürlich auch in der vorlesungs- und prüfungsfreien Zeit, ja gerade in dieser Zeit.

2. Hat die Rechtsdogmatik tatsächlich Wissenschaftscharakter?

Aber handelt es sich dabei tatsächlich um eine ernst zu nehmende wissenschaftliche Tätigkeit? Diese Zweifelsfrage hat eine alte Tradition, wobei es selbstquälerisch vor allem gerade Juristen waren, die sie aufgeworfen haben.4 Um diese Zweifel richtig zu verstehen, müssen Sie beachten, dass sich diese nur auf die sog. «Rechtsdogmatik» beziehen, also auf die theoretischen Erläuterungen zum geltenden Recht, zur Bundesverfassung, zu den Bundesgesetzen, vielleicht auch zu kantonalen Vorschriften oder zu Gerichtsentscheidungen, während hingegen der Wissenschaftscharakter der juristischen Forschungsdisziplinen, im Universitätsbetrieb meist «Grundlagenfächer» genannt, wie die Rechtsgeschichte, die Rechtssoziologie, die Rechtsanthropologie, wohl auch die Rechtsvergleichung,5 die allgemeine Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, kaum angefochten ist. Ich habe gerade gesagt, die Zweifel bezögen sich «nur» auf die Rechtsdogmatik. Dies ist aber gerade die Kerndisziplin der Rechtswissenschaft.6 Die meisten Aus der Zeitschriftrecht 1/2011 | p. 49–52 Es folgt Seite № 50Rechtsprofessoren, die Verfassungs- und Verwaltungsrechtler, die Privatrechtler und die Strafrechtler unserer Fakultäten, betreiben, wenn sie publizistisch tätig sind, «nur» Rechtsdogmatik,7 auf die sich im Übrigen auch etwa 90% des universitären Rechtsunterrichts beziehen. Kann diese Rechtsdogmatik als Wissenschaft bezeichnet werden?

Das ist, wie gesagt, schon des Öfteren bezweifelt worden. 1848 hat der preussische Staatsanwalt von Kirchmann von der «Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft»8 gesprochen. Durch ihre Abhängigkeit vom jeweils gerade geltenden Gesetz mache die Rechtswissenschaft das «Zufällige zu ihrem Gegenstand», werde «selbst zur Zufälligkeit»; «drei berichtigende Worte des Gesetzgebers», und ganze juristische Bibliotheken würden «zur Makulatur». 1982 schrieb Hein Kötz,9 der angesehene Hamburger Rechtsvergleicher, dem «wissenschaftlichen Geschäft der Juristen» hafteten «wegen seiner Verengung auf einen bloss nationalen Gegenstand von vornherein eine unvermeidliche Provinzialität, eine gewisse Kleinkariertheit, eine subalterne Beschränktheit» an, sodass es nicht zu verwundern sei, dass es zwar Nobelpreise für Naturwissenschaftler und Nationalökonomen gibt, aber noch niemand ernstlich auf den Gedanken gekommen ist, auch Rechtswissenschaftler mit diesem Preis auszuzeichnen. Ganz in diesem Sinn hatte auch Hans Kelsen,10 der grosse Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, die Rechtswissenschaft als eine «dem Zentrum des Geistes entlegene Provinz» bezeichnet, die «dem Fortschritt nur langsam nachzuhumpeln» pflege.

Ich meine, es ist nun an der Zeit, mit einem Plädoyer zur Verteidigung der Rechtswissenschaft als Wissenschaft zu beginnen, dies vor allem auch, um Sie, liebe Neodoktorinnen und Neodoktoren, davon abzuhalten, die bevorstehende Annahme Ihrer Doktorurkunde, des Ausweises also über Ihre erfolgreiche Beschäftigung mit einer Wissenschaft, die, so scheint es, diesen Namen gar nicht verdient, zerknirscht zurückzuweisen.

Der Rechtsdogmatiker interpretiert, wie gesagt, als Theoretiker, also ohne einen praktischen Rechtsfall entscheiden zu müssen, das geltende Recht, er versucht, dessen Sinngehalt herauszuarbeiten. Dies ist – das wissen alle hier anwesenden Studentinnen und Studenten – kein einfaches Geschäft; nicht einfach allein schon deswegen, weil der Wortlaut der eben interpretationsbedürftigen Regelungen praktisch nie eindeutig ist, nicht einfach auch, weil es nicht genügt, nur die einzelne zweifelhafte Regelung zu interpretieren, man vielmehr den gesamten Kontext, also die Einbettung der Einzelregelung in die kaum überschaubare, höchst komplexe Gesamtrechtsordnung mitzubedenken hat,11 nicht einfach schliesslich, weil die zu interpretierenden Regelungen sehr oft recht alt sind – das Obligationenrecht etwa beruht in seinem Allgemeinen Teil noch weitgehend auf einem Gesetz aus dem Jahre 1881 –, woraus sich ergibt, dass diese Normen viele der heute zu beurteilenden Fakten noch gar nicht berücksichtigen konnten.

Zur Illustration der letztgenannten Schwierigkeit: Sind Viren, die unkontrolliert aus einem Labor in den Verkehr gelangen, «Tiere» i.S. der Tierhalterhaftung des Art. 56 OR, sind präparierte Skipisten «Werke» i.S. der Werkeigentümerhaftung des Art. 58 OR, sind die aus der modernen Vertragspraxis nicht wegzudenkenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen Erklärungsbestandteile, die i.S. von Art. 1 Abs. 2 OR auch stillschweigend in den Vertrag einbezogen werden können, erfüllen E-Mail-Texte das Formerfordernis der einfachen Schriftlichkeit nach Art. 13 OR? Wie die hier anwesenden Juristinnen und Juristen wissen, gäbe es – natürlich nicht nur aus dem dem Vortragenden naheliegenden Bereich des OR – geradezu unzählige weitere Beispiele für die Schwierigkeiten der Interpretation. Bei all diesen interpretatorischen Zweifeln darf der Rechtsdogmatiker oder die Rechtsdogmatikerin nun nicht einfach würfeln oder eine Münze werfen; nein: Sie müssen regelgeleitet, «lege artis» arbeiten, d.h. methodisch korrekt interpretieren,12 ein Unterfangen, das auf eine besonders ehrwürdige Tradition zurückblickt und wegen der Notwendigkeit der Abwägung einer Fülle von Gesichtspunkten ohne Übertreibung als intellektuell höchst anspruchsvoll bezeichnet werden kann. Geht man daher von einem weiten Begriff der Wissenschaft aus, der jedes rational nachprüfbare Verfahren umfasst, «das mit Hilfe bestimmter, am Gegenstand entwickelter Denkmethoden geordnete Erkenntnisse zu gewinnen sucht»,13 so betreibt auch der Rechtsdogmatiker, wie es scheint, eine Wissenschaft.

Doch sind damit noch nicht alle Zweifel ausgeräumt. Ich habe gerade von einem «rational nachprüfbaren Verfahren» gesprochen. Ist das Vorgehen des rechtsdogmatisch arbeitenden Rechtswissenschaftlers tatsächlich rational nachprüfbar? Unübersehbar ist nämlich, dass seine Aus der Zeitschriftrecht 1/2011 | p. 49–52 Es folgt Seite № 51Interpretationsbemühungen nicht ohne persönliche Eigenwertung vonstattengehen. Es bleiben bei jedem Interpretationsgeschäft des Dogmatikers nicht nur semantische, sondern ganz allgemein hermeneutische Spielräume offen, bei deren Bewältigung die Persönlichkeit des Interpreten, sein «Vorverständnis», wie man im Anschluss an die philosophische Hermeneutik von Hans Georg Gadamer14 sagt, eine unvermeidliche und nicht zu vernachlässigende Rolle spielen. Insofern gibt es offensichtliche Parallelen zur Interpretationstätigkeit des juristischen Praktikers, namentlich der Richterin und des Richters.15 Eine wertfreie Sozialwissenschaft i.S. des Werturteilfreiheitspostulats Max Webers16 ist die Arbeit des Rechtsdogmatikers somit zweifellos nicht. Nehmen Sie nur das gerade angeführte Beispiel zur Möglichkeit einer stillschweigenden Einbeziehung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Verträge: Ein vom Konsumentenschutzgedanken überzeugter Dogmatiker wird sich dagegen aussprechen und eine sog. teleologische Reduktion des Art. 1 Abs. 2 OR befürworten,17 ein eher wirtschaftsnah argumentierender Privatrechtler wird dieser Vorgangsweise wohl nicht zustimmen können. Sie sehen, der Rechtswissenschaftler (nicht nur der Staatsrechtler, Völkerrechtler oder Strafrechtler, sondern auch der Vertreter des oft immer noch als «unpolitisch» missverstandenen Privatrechts) ist als de lege lata (also auf Basis des geltenden Rechts) argumentierender Dogmatiker in einem gewissen Mass durchaus Minipolitiker, er lässt in seine Interpretationen rechtspolitische Präferenzen einfliessen und ist damit in den Worten des grossen amerikanischen Rechtslehrers Roscoe Pound18 auch ein wenig «social engineer».19 Er betreibt, so könnte man paradox zugespitzt formulieren, eine «Wissenschaft», die das, was sie «erforscht», gleichzeitig teilweise durch Eigenwertung selbst kreiert. Ist dies aber tatsächlich noch Wissenschaft?20 Eine Antwort bedürfte sehr differenzierter Überlegungen. Hier nur so viel: Zum einen sollte der Anteil subjektiver, auch auf (im weiten Sinn verstandene) politische Optionen bezogener, «produktiver» Eigenwertung des theoretisch arbeitenden Rechtsinterpreten nicht überbewertet werden.21 Es gibt ihn, ihn abzuleugnen wäre Illusion, aber er macht, wie ich hier nicht näher belegen kann, keineswegs das gesamte, auch, ja wohl überwiegend, aus kognitiven Elementen zusammengesetzte Interpretationsgeschäft aus. In den Bereichen dieses die Rechtsdogmatik kennzeichnenden reproduktiv-produktiven Mischverhältnisses,22 in welchen die Eigenwertung tatsächlich spielt, sollte der Dogmatiker zum anderen aus dem – hoffentlich reichen – Fundus seiner juristischen Bildung und Erfahrung eine möglichst unabhängige und eigenverantwortliche Wertung treffen, die nicht einfach Parteiprogramme nachbetet oder willfährig und einseitig der Optik eines privaten Auftraggebers und Sponsors folgt. Die Eigenwertung sollte darüber hinaus offengelegt23 und damit diskutierbar gemacht werden, darf also nicht hinter orakelhaften Beschwörungen eines imaginären «Geistes» eines Gesetzes oder des «Wesens» eines Rechtsinstituts versteckt werden.24

Zugegeben, eine «scientia» i.S. der Naturwissenschaften ist die Rechtsdogmatik trotz allen Bemühungen um differenzierte Objektivität nicht, sie ist vielmehr «prudentia», eben «Jurisprudenz», der methodisch regelgeleitete, auf «vernünftige», pragmatische Lösung von gesellschaftlichen Konfliktfällen bezogene Versuch, das geltende Recht sinnvoll und mit Augenmass zu deuten und interpretativ weiterzuentwickeln.25 Wer dies nicht Wissenschaft nennen möchte und einen Etikettenschwindel wittert, den soll niemand daran hindern.26 Ich meinerseits habe keine Aus der Zeitschriftrecht 1/2011 | p. 49–52 Es folgt Seite № 52Hemmungen, mich und meine Kolleginnen und Kollegen als Rechtswissenschaftler zu bezeichnen. Um im Hinblick auf die für die aktuellen Universitätsstrategien weichenstellende, freilich reichlich holzschnittartige Zweiteilung der Wissenschaftswelt in «life sciences» und Kulturwissenschaften nun noch eine Einordnung vorzunehmen (und damit zu vermeiden, dass die Rechtswissenschaft zwischen alle Stühle, besser: Töpfe der Mittelzuteilung fällt): Der Rechtswissenschaftler betreibt als Rechtsdogmatiker eine Kulturwissenschaft ganz besonderer Art, eine auf praktische Anwendung im Rechtsleben zielende, somit, wie es Gadamer ausdrückte,27 eine «applikative» Interpretationswissenschaft.

3. Kreativität der Rechtsdogmatik, ihre gesellschaftliche Bedeutung und Gefährdung

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, abschliessend bekennen, dass ich das Geschäft des Rechtsdogmatikers persönlich immer als eine faszinierende, gesellschaftlich wichtige, gleichzeitig aber auch anforderungsreiche Aufgabe empfunden habe. Sie erfordert nicht nur i.e.S. juristische Kenntnisse, sondern gleichzeitig immer auch einen offenen Blick auf das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt. Sie erfordert, wenn sie kreativ sein soll – und die grossen Rechtswissenschaftler waren kreativ,28 denken Sie etwa an die «Entdeckung» der Haftung aus culpa in contrahendo durch Rudolf von Jhering29 –, sie erfordert, sagte ich, darüber hinaus volle Konzentration und langen Atem während oft mühseliger Materialsuche und Detailarbeit. Ohne dieses, wie Max Weber sagte, «starke, langsame Bohren von harten Brettern» am Schreibtisch,30 stellt sich die Idee nun einmal nicht ein. Der zündende Einfall kommt dann vielleicht gerade nicht beim Grübeln am Schreibtisch, sondern wie von Jhering berichtet wird,31 «bei der Zigarre auf dem Kanapee», aber er wäre dort nicht gekommen, hätte man die Phase des frustrierenden Grübelns vor einem leeren Blatt Papier nicht hinter sich gebracht.32

Ich habe zuerst von der gesellschaftlichen Wichtigkeit der Tätigkeit des Rechtswissenschaftlers gesprochen. Dazu müssen Sie bedenken, dass dieser seine Interpretationen und theoretischen Konstruktionen ja nicht entwickelt, um sich den Beifall oder den Neid seiner staunenden Fachkollegen zu sichern. Um ganz ehrlich zu sein – dies nicht für das Protokoll! –: Er tut es vielleicht ein wenig doch auch deswegen! In erster Linie aber entwickelt er seine Gedanken – das ist seine «raison d’être» – zuhanden der Rechtspraxis, der Gerichte, Ämter und Anwälte, um deren Tätigkeit aus der nicht unter dem Diktat des täglichen Erledigungszwangs stehenden Distanz des Theoretikers argumentativ zu unterstützen und niveauvoll zu rationalisieren.33 Dass ein niveauvolles Rechtswesen aber für ein Staatswesen von eminenter Bedeutung ist, braucht wohl nicht weiter begründet zu werden.

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, – nun endgültig zum Abschluss! – noch eine Sorge artikulieren. Die Sorge nämlich, dass die Möglichkeit der ungestörten Konzentration in – wie gezeigt, keineswegs bequemer – «Einsamkeit und Freiheit»,34 ohne die, wie gesagt, eine qualitativ hochstehende, kreative Rechtswissenschaft nicht denkbar ist, angesichts zunehmender Belastung im immer stärker nach ökonomischen Effizienzmassstäben durchorganisierten und verschulten Universitätsbetrieb in ausreichendem Mass gewährleistet bleibe, dass vor allem auch das Verständnis in Gesellschaft und Politik für die Notwendigkeit ausreichender Freiräume für substanzielle, niveauvolle rechtswissenschaftliche Arbeit erhalten bleibe; Freiräume, die selbstverständlich nicht kostenlos erhältlich sind und mir durch die zunehmende Drittmittelorientierung der Universitäten und der damit Hand in Hand gehenden Zunahme administrativer Belastung eher gefährdet als gefördert scheinen.35 Aber dies ist nun ein ganz anderes Thema, das weiterer Vertiefung bedürfte; zum Ausblick ansprechen wollte ich es aber doch!

  1. * Prof. Dr. iur. Dr. h.c. Ernst A. Kramer, em. Ordinarius für Privatrecht an der Universität Basel.
  2. ** Ansprache anlässlich der Promotionsfeier der Juristischen Fakultät der Universität Basel in der Elisabethenkirche in Basel vom 27.11.2010. Der Stil eines öffentlichen, nicht an ein Fachpublikum gerichteten Vortrags ist beibehalten worden. Es wurden nur einige Belege hinzugefügt.
  3. 1 Erstauflage München/Leipzig 1919. Häberle (JöR NF 52 [2004] 155 ff.) sprach in seiner Bayreuther Abschiedsvorlesung gar von der Wissenschaft als «Lebensform». Der nüchterne Ausdruck «Beruf» wird hier vorgezogen.
  4. 2 1889 Dr. iur. an der Universität Berlin; 1891 juristische Habilitation in Berlin; 1893 a.o. Prof. für Handels- und deutsches Recht an derselben Universität.
  5. 3 In der folgenden Betrachtung ausgespart bleibt namentlich das weite Feld der zuweilen intensiv betriebenen, mitunter auch sehr lukrativen beratenden Funktion von Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren als Gutachter, Konsulenten und Mitglieder von Expertenkommissionen oder forschungsfördernden Gremien. Eine Beurteilung müsste differenziert ausfallen: Positiven Effekten auch für Wissenschaft und Lehre stehen die Gefahren gegenüber, dass die Kernaufgaben des Rechtsprofessors/der Rechtsprofessorin in den Hintergrund geraten und unter Benutzung des Prestiges des Wissenschaftlers einseitig ergebnisbezogene Auftragsarbeit geleistet wird. Zu den positiven Effekten ist ganz der Auffassung des französischen Rechtsvergleichers André Tunc (in: Jalons. Dits et écrits d’André Tunc [1991] 412) zu folgen. Für ihn ist der durch die beratende Tätigkeit des Rechtsprofessors eröffnete Bezug zur Praxis «à peu près indispensable à qui enseigne droit commercial, droit fiscal ou certaines autres branches du droit. C’est le contact avec la pratique nécessaire à la connaissance des problèmes, donc à l’enseignement et à la recherche…». Zur Gefahr des Gefälligkeitsgutachtens in aller Deutlichkeit Häberle, JöR NF 52 (2004) 161: «…das ergebnisbezogene Auftragsgutachten ist der Bankrott der Juristen als Wissenschaftler…».
  6. 4 Die römischen Juristen waren von diesen Selbstzweifeln offensichtlich noch nicht angekränkelt. Berühmt die stolze Definition des Ulpian (Dig. 1,1,10): «Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia» (Die Jurisprudenz ist die Lehre von den göttlichen und menschlichen Angelegenheiten, die Wissenschaft vom Gerechten und Ungerechten).
  7. 5 Die wissenschaftstheoretische Einordnung der Rechtsvergleichung und die methodologischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, werden neuerdings wieder stark diskutiert. Dazu etwa Reimann, American Journal of Comparative Law 50 (2002) 671 ff.; Palmer, American Journal of Comparative Law 53 (2005) 261 ff.
  8. 6 Jedenfalls im kontinentalen Europa und den von diesem Rechtskreis beeinflussten Ländern. Anders die Situation in den USA: «Die zentrale Rolle, die im kontinentaleuropäischen rechtswissenschaftlichen Diskurs die dogmatische Argumentation hat, wird im amerikanischen Diskurs am ehesten durch die Economic und die Policy Analysis of Law wahrgenommen» (von Bogdandy, JZ 2011 3).
  9. 7 Selbstverständlich betreiben nicht nur Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren Rechtsdogmatik. Von den Dissertationen und Habilitationsschriften abgesehen gibt es vor allem auch eine Fülle rechtsdogmatischer Schriften von juristischen «Praktikern», vor allem von Rechtsanwälten, Richtern etc. Hauptberuflich betreiben dieses publizistische Geschäft aber nur die Rechtsprofessoren. Um die Charakterisierung von deren beruflicher Funktion aber geht es in der vorliegenden Betrachtung.
  10. 8 Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1848); zit. nach einem von Meyer-Tscheppe hrsg. Neudruck 1988. Die folgenden Zitate beziehen sich auf S. 28 f. dieser Ausgabe.
  11. 9 JBl 1982 356. Den Ausweg aus der wissenschaftlichen Beschränktheit der Rechtsdogmatik sieht Kötz in der Rechtsvergleichung. Ebenso schon Jhering, Geist des Römischen Rechts, 1. Teil, 6. Aufl. (1907) 14 f., der in der nationalen Begrenztheit der Rechtsdogmatik (die er verächtlich als «Landesjurisprudenz» bezeichnet) eine «demütigende, unwürdige Form für eine Wissenschaft» sieht und als Ausweg die «vergleichende Jurisprudenz» propagiert.
  12. 10 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960) IV. Ähnlich der berühmte US-amerikanische Rechtslehrer Karl N. Llewellyn, Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, aus dem Nachlass hrsg. von M. Rehbinder (1977) 29: «Denn unter allen Wissenszweigen steht das Recht allein in seinem Kleinbürgertum, in seiner Staatsbegrenztheit… Das Recht steht stolz, verächtlich, unberührt, veraltet, einzig unter den Kulturgebilden. Fast hätte ich gesagt: Es steht mittelalterlich allein in der modernen Welt. Das sag ich lieber nicht; ich will das Mittelalter nicht verleumden».
  13. 11 Die Einzelregelung als Bestandteil eines in der positiven Rechtsordnung nicht direkt abgebildeten, daher von der Rechtsdogmatik erst zu entwickelnden «inneren Systems» von leitenden Wertungsprinzipien der Gesamtrechtsordnung oder deren Teile zu begreifen, ist eine besonders wichtige Aufgabe des theoretisch arbeitenden Juristen. S. schon Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814) 22: «Diese», die leitenden Rechtsprinzipien, «heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den inneren Zusammenhang und die Art der Verwandschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen, gehört… zu den schwersten Aufgaben unserer Wissenschaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unserer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter gibt.»
  14. 12 Lehrbuchartige, zusammenfassende Darstellung der Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre bei Kramer, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. (2010).
  15. 13 Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (1966) 11. Zur wissenschaftstheoretischen Einordnung der Jurisprudenz mit vielen weit. Nachw. jetzt Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009) 47 ff.; Hesselink, European Law Journal 15 (2009) 27 ff. Sehr lesenswert auch das Kapitel «Rechtswissenschaft als Wissenschaft» bei Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. (2010) 192 ff. (N 289 ff.).
  16. 14 Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960); zit. nach der 7. Aufl. (2010) 281 ff., wo von den «Vorurteilen als Bedingungen des Verstehens» die Rede ist.
  17. 15 Zu deren vorverständnisgeprägter Interpretation vgl. Kramer (o. Fn. 12) 306 ff. mit zahlr. Nachw. Im Unterschied zur theoretisch-dogmatischen Interpretation des Wissenschaftlers wird die richterliche Interpretation auch noch durch die ganz konkreten Umstände des zu entscheidenden Falls bestimmt. Massgebend ist «das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz» (BGE 129 III 335 [340]).
  18. 16 Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnisse, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl. (1988) 146 ff.
  19. 17 So – im Hinblick auf die Einbeziehung von AGB in Verbraucherverträge – Berner Kommentar zum OR/Kramer (1986) Art. 1 N 195.
  20. 18 S. Pound, Harvard Law Review 36 (1923) 955, der sich hier freilich auf die richterliche Tätigkeit bezieht.
  21. 19 Selbstverständlich ist der Rechtsprofessor/die Rechtsprofessorin nur in der Rolle des Wissenschaftlers/der Wissenschaftlerin auf die im Text angesprochene dogmatische «Minipolitik» beschränkt. Wie allen anderen Bürgerinnen und Bürgern ist es ihm/ihr unbenommen, sich de lege ferenda (also rechtspolitisch) auch zu hängigen politischen Weichenstellungen öffentlich zu äussern. Solche Stellungnahmen (wie sie in der Schweiz zu staatsrechtlichen Fragen nicht selten sind [dazu A. Kley, ZBl 2011 2 ff., und die daran anschliessenden persönlichen Statements einiger schweizerischer Staatsrechtslehrer]) mögen, namentlich wenn es um komplexe Wertungsfragen geht, aufgrund des professoralen Expertenwissens der sich Äussernden sogar besonderes Gewicht haben, erwecken freilich beim sich über «political correctness» belehrt fühlenden «einfachen Bürger» (zuweilen selbst bei Bundesräten!) leicht auch antiprofessorale Affekte; wissenschaftlicher Charakter kommt solchen Interventionen jedenfalls nicht zu. Bekleiden die Rechtsprofessoren oder -professorinnen darüber hinaus politische Ämter, sind sie Politiker wie alle anderen auch.
  22. 20 Kelsen (o. Fn. 10) IV lehnt eine persönlich wertende Interpretation des (theoretisch-dogmatisch argumentierenden) Rechtswissenschaftlers strikte ab und fordert «den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht … politische Forderungen zu vertreten, die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können». Selbstverständlich ist Kelsen bewusst, dass es jeweils mehr oder weniger grosse Spielräume der Interpretation gibt. Im Unterschied zur richterlichen Interpretation, die unter Entscheidungszwang steht, müsse sich der Rechtswissenschaftler aber darauf beschränken, die mehreren gleichwertig möglichen Deutungen der zu interpretierenden Norm aufzuzeigen; eine persönliche Präferenz für eine dieser möglichen Deutungen zu äussern, stehe dem Rechtswissenschaftler als Wissenschaftler nicht zu. Vgl. zum Ganzen Kelsen (o. Fn. 10) 352 ff. Kelsens Position ist vom Standpunkt des Postulats der Werturteilsfreiheit der dogmatischen Rechtswissenschaft aus betrachtet durchaus konsequent, gleichzeitig aber auch gänzlich unrealistisch. Es sind keine rechtsdogmatischen Untersuchungen ersichtlich, die sein Postulat der Wertungsabstinenz tatsächlich beherzigen würden.
  23. 21 Vgl. meine entsprechenden Ausführungen zur richterlichen Interpretation (o. Fn. 12) 312 ff.
  24. 22 Zu diesem schon Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. (1932) 111: Dogmatische Auslegung sei «ein unlösbares Gemisch theoretischer und praktischer, erkennender und schöpferischer, reproduktiver und produktiver wissenschaftlicher und überwissenschaftlicher, objektiver und subjektiver Elemente».
  25. 23 Offenlegung setzt voraus, dass sich der Interpret selbst seiner persönlichen (politischen) Wertungen bewusst und nicht von der Illusion der «unpolitischen» Dogmatik geprägt ist. Treffend Mayer-Maly, Rechtswissenschaft, 2. Aufl. (1981) 16: «Das Ziel der Objektivität kann nicht durch Leugnung des Politischen, sondern nur durch die Erfassung seines Anteils an der Jurisprudenz erreicht werden.» Auch die juristische Methodik bildet kein «politikfreies Lehrgebäude der Wissenschaft». Richtig Rhinow, ZSR 127 I (2008) 204.
  26. 24 Zum Missbrauch des «Wesensarguments» als verschleiern des «Kryptoargument» anschaulich Scheuerle, AcP 163 (1963) 429 ff.
  27. 25 Zur «praktischen Leistung» der Rechtsdogmatik Wieacker, in: Wieacker, Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Theorie des Rechts und der Rechtsgewinnung, hrsg. von D. Simon (1983) 59 ff.
  28. 26 Zuletzt wieder Kiesow, JZ 2010 585 ff., der den Gedanken, dass die Rechtsdogmatik wissenschaftlichen Anspruch erheben könne, als (aus der Pandektistik des 19. Jahrhunderts stammenden) spezifisch deutschen Sonder- bzw. Irrweg qualifiziert. In seiner Rede zum Dies academicus der Universität Basel vom 26.11.2010 («Die Wissenschaft und die Frage nach dem Menschen», Heft 108 der Basler Universitätsreden [2010] 5) definiert Emil Angehrn: «Wissenschaft ist ein methodisch erworbenes, begründetes Wissen: ein Wissen, das nach bestimmten Regeln der Datenerhebung und -interpretation zustande kommt und einen Anspruch auf objektive Wahrheit erhebt.» Der Anspruch auf «objektive Wahrheit», auf «objektive Richtigkeit» der von der Rechtsdogmatik vertretenen Interpretationen kann nur mit starker Relativierung vertreten werden. Es geht nicht um die «einzig richtige» Interpretation (so aber die «right answer thesis» von Dworkin, Taking Rights Seriously [1977] 279 ff.), sondern um eine möglichst plausible Interpretation in einer Bandbreite von weiteren diskussionswürdigen Interpretationen. «Wahrheit» («Richtigkeit») bedeutet in diesem Sinn «rationale, durch gute Gründe gestützte Akzeptabilität» (Habermas, Faktizität und Geltung, 4. Aufl. [1994] 277). Zum Ganzen mit weit. Nachw. Kramer (o. Fn. 12) 313 f.
  29. 27 Gadamer (o. Fn. 14) 335.
  30. 28 Zur Gegenüberstellung von «fruchtbaren» und «unfruchtbaren» (sterilen) Interpretationen das Bild von U. Eco, Zwischen Autor und Text (1994) 162: «Doch gewisse Interpretationen sind sichtlich unfruchtbar wie Maulesel.» Dabei ist zu beachten, dass Kreativität «dogmatischer Interpretationen» immer nur eine relative sein kann; sie ist eingebunden in das «Dogma» der Beachtlichkeit des geltenden Rechts. Da dessen Inhalt aber eben jeweils interpretationsbedürftig ist, bleibt ein gewisser kreativer Spielraum offen. G. Hirsch (ZRP 2006 161) hat als Präsident des deutschen BGH das Bild vom Richter als Pianisten geprägt, der die Spielräume, die ihm die Vorgaben des Komponisten (des Gesetzgebers) belassen, «mehr oder weniger virtuos» interpretiere. Dieses Bild gilt genauso für den theoretisch argumentierenden Rechtsdogmatiker.
  31. 29 JheringsJb 4 (1861) 1 ff. Zu den «juristischen Entdeckungen» schon Dölle, Vortrag auf dem 42. Deutschen Juristentag (1958); vgl. nun auch Hoeren, Zivilrechtliche Entdecker (2001).
  32. 30 Max Weber hat dieses vielzitierte Bild in seinem Vortrag über «Politik als Beruf» (1919) 66 freilich auf die politische Tätigkeit bezogen; es gilt aber ebenso für die wissenschaftliche. Sowohl für die erfolgreiche politische Tätigkeit als auch für die wissenschaftliche betont Weber jeweils die Notwendigkeit der an der Aufgabe entzündeten «Leidenschaft». Dieses Erfordernis gilt zweifellos auch für die Rechtswissenschaft.
  33. 31 S. Max Weber (o. Fn. 1) 11.
  34. 32 S. Max Weber (o. Fn. 1) 11: «Nur auf dem Boden ganz harter Arbeit bereitet sich normalerweise der Einfall vor».
  35. 33 Von der im Text angesprochenen Rollenverteilung geht ja auch Art. 1 Abs. 3 ZGB aus, wonach das Gericht bei Interpretation und Lückenfüllung die «bewährte Lehre» beachten solle.
  36. 34 Die Zitierung dieser Humboldt’schen Forschungsideale mag manchem Leser als Zeichen anachronistischer Wissenschaftsromantik erscheinen. Namentlich die «Einsamkeit» des Forschers steht im Gegensatz zur markanten Zunahme vernetzter Forschung. Es sollen damit auch keineswegs die Vorzüge des Forschungsteamworks verleugnet werden, ohne das gewisse Projekte (namentlich internationaler und interdisziplinärer Ausrichtung) nicht «machbar» wären. Doch entspricht es tatsächlich der Überzeugung des Autors dieser Zeilen, dass innovative rechtswissenschaftliche «Würfe» regelmässig weitgehend in Einzelarbeit zustande kommen. Ebenso jüngst auch Zimmermann, NJW 2010 3344.
  37. 35 Die von Zimmermann jüngst (NJW 2010 3344) artikulierte Sorge, dass wegen des durch die Drittmitteleinwerbung in Gang gesetzten «zeit- und ressourceintensiven Kreislaufs von Antragsstellung, Begutachtung und Evaluation» sich Forscher zunehmend in «Forschungsmanager» verwandelten, ist nicht von der Hand zu weisen.