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Aus der Zeitschriftrecht 4/2018 | S. 246–254Es folgt Seite №246

Die Haftung des Altruisten

Der Altruist haftet milder als der Egoist. Diesen Grundsatz hält Art. 99 Abs. 2 OR ausdrücklich fest. Die Auslegung der Norm ist jedoch höchst umstritten. Einige Autoren betrachten sie als Schadenersatzbemessungsregel. Andere siedeln sie bei den Haftungsvoraussetzungen an – mit der Konsequenz, dass die Haftung bei Uneigennützigkeit unter Umständen ganz entfällt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Streitfrage war bereits unter der Geltung des alten Obligationenrechts von 1881 uneinheitlich – und sie ist es noch immer. Dieser Beitrag verschafft einen Überblick und analysiert die bundesgerichtliche Rechtsprechung der letzten 130 Jahre. Er kommt zum Schluss, dass Art. 99 Abs. 2 OR keine Schadenersatzbemessungsregel darstellt, sondern bei den Haftungsvoraussetzungen – genauer: bei der vom Schuldner zu beachtenden Sorgfalt – anzusiedeln ist.

I. Einleitung

Altruistische Handlungen nehmen im Alltag unserer Gesellschaft einen wichtigen Platz ein.1 Man erweist jemandem einen Gefallen, leistet kurz Hilfe oder erteilt Auskunft – meist ohne über allfällige Konsequenzen nachzudenken. Im Schadenfall können sich jedoch folgenschwere Haftungsfragen stellen, wie die Lektüre von BGE 137 III 539 in Erinnerung ruft.2

Um solche Haftungsfragen zu…

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