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Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172Es folgt Seite №166

«Das Beste wird nicht durch Worte klar»

Laudatio zur Emeritierung von Prof. Heinrich Honsell,

anlässlich des Symposiums «vinculum iuris» vom 23. Juni 2007 an der Universität Zürich

Meine Laudatio: ein Interludium

1. Das Schwierigste am Anfangen ist, damit anzufangen. Man steht vor einer Rede und sucht nach einem Griff. Häufig greift man nach einem Zitat. Da dieser Kunstgriff von der akademischen Gemeinschaft toleriert wird, will auch ich mit einem Zitat beginnen.

Ich beginne aber nicht mit Rudolf von Jhering: nicht mit seinem «Scherz und Ernst» und auch nicht mit dem «Geist des römischen Rechts», wie es mit Rücksicht auf das «vinculum iuris» vielleicht angezeigt wäre. Nein, ich beginne mit Johann Wolfgang von Goethe, dessen juristische Dissertation so eigenwillig war, dass sie nicht einmal zur Zensur entgegengenommen wurde1. Der geniale Goethe hatte eben anderes im Sinn als nur brave Jurisprudenz. Er war schon früh ein Dichter. Und von ihm stammt auch der folgende Vers: «Kein tolleres Versehen kann sein, gibst einem ein Fest, und lädst ihn nicht ein».2

Ob Goethe, als er dies schrieb, aus Erfahrung berichtet oder einfach vor sich hin gedichtet hat, ist unbekannt. Fest aber steht: Ein ähnliches Versehen ist den Organisatoren unseres Festes nicht passiert. Heinrich Honsell ist hier, und wir freuen uns, wie wir uns immer gefreut haben und immer freuen, Dich, lieber Heinrich, bei uns zu haben.

Dass das Symposium, das heute zu Deinen Ehren gegeben wird, ein Abschiedsfest ist, durchmischt die Freude allerdings mit jener Wehmut, die immer aufkommt, wenn es um Abschied geht. Freilich ist Dein Abschied nur ein Teilabschied: ein Abschied nur von der ordentlichen Lehrbühne der Zürcher Professur. Das nimmt der Laudatio, die ich aus diesem Anlass halten soll, das Beklemmende einer Schlussbilanz. Und das wiederum erleichtert mir meine Aufgabe, da die Unvollständigkeit meiner Lobrede durch spätere Laudatoren noch ausgeglichen werden kann. Ihnen wird es obliegen, zu Deinen Ehren die komplette Bilanz eines erfolgreichen Berufslebens zu ziehen.

2. Obwohl man von mir also nur ein Interludium, nichts Definitives, erwartet, bin ich nicht furchtlos hierhergekommen, um die Laudatio auf Heinrich Honsell zu halten.

a. Denn einerseits ist dies meine erste Laudatio, die ich auf einen Kollegen halte, was mich befürchten lässt, in meiner Unerfahrenheit etwas Falsches oder das Richtige falsch zu sagen. Man verlangt mir Worte ab, deren ich nicht gewohnt bin. Am liebsten hätte ich mich im Publikum versteckt, hätte bloss zugehört, statt in die Rolle des Laudators zu schlüpfen.3 Jetzt aber stehe ich hier; und was mir hilft, ist lediglich der Gedanke, dass «Laudatio» vom lateinischen Wort «laus» (Lob, Ruhm, Anerkennung) kommt4, und dass schon der Eglihannes in Gotthelfs Vehfreude bemerkt hat: «Eine Laus im Kraut ist immer noch besser als gar kein Fleisch».5

b. Anderseits, und das tritt erschwerend hinzu, hat mich der Einladungstext zum Symposium erschreckt. Der Grund ist ein simpler, wie alle erkannten Gründe simpel sind: Im Text der Einladung werde ich als «Peter Gauch, Bern» aufgeführt, obwohl ich seit über 34 Jahren im schweizerischen Freiburg lebe und lehre. Hat man sich etwa, so fragte ich mich, in der Person geirrt? Wollte man in Wirklichkeit einen eminenten Professor aus Bern mit der Laudatio betrauen, den man aber irrtümlicherweise als «Peter Gauch» bezeichnet hat? Liegt also ein «error in persona» vor, worauf man sich demnächst berufen wird, um mich vom Rednerpult zu vertreiben? Oder (zweite Variante) haben die Einladenden tatsächlich mich gemeint, mich aber aus Irrtum in Bern angesiedelt?

3. Die zweite Variante wäre für mich die angenehmere. Und sie wäre kaum der Rede wert, verbliebe da nicht meine Angst, plötzlich ein Berner zu werden, wo ich doch lieber in Freiburg bleibe. Wenn man ins Alter kommt, und das wird mir Heinrich Honsell bestätigen, lässt man sich nicht mehr gerne verpflanzen, was meine Angst auch gerontologisch erklärt.

Für einen «vernünftigen Menschen» wäre diese Angst, allein gestützt auf einen Einladungstext, zwar unbegründet, ja geradezu «absurd», um einen Ausdruck aus der Terminologie streitbarer Wissenschaftler zu verwenden. Nun bin ich aber ein Jurist und weiss um die Macht unserer Sprache und wie sie die Wirklichkeit verändert:

Erst schaffen wir in Sprache gekleidete Begriffe, denen sich dann die Rechtswirklichkeit anzupassen pflegt. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Ich erinnere etwa an die gebräuchliche Definition der deliktischen Widerrechtlichkeit mit dem primären Erfolgs- und dem sekundären Verhaltensunrecht; an die Vertrauenshaftung, die seit dem Swissair-Fall6 Einzug in die schweizerische Rechtslandschaft gehal- Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172 Es folgt Seite № 167ten hat; an das gesetzliche Schuldverhältnis, das parallel zum Vertragsverhältnis verläuft; an die vertragliche Drittschutzwirkung; an den Differenz-Schadensbegriff und an den Haushaltschaden, der den Schadensbegriff normativ erweitert7, oder an den Verlust einer Chance. All dies sind ideologisch angereicherte Begriffe, mit denen oder mit deren praktischer Umsetzung sich Heinrich Honsell in seinen Werken kritisch auseinandersetzt, wohl wissend, dass er sich damit nicht durchwegs auf der Linie der herrschenden oder zumindest einer modernen Meinung befindet, für die «das Wesentliche des Modernseins» oft «darin liegt, sich für modern zu halten»8.

Honsells Lehre, und wo er steht

4. Überhaupt gehört es zu den Merkmalen der Honsell’schen Lehre, dass sie keine Konventional-Jurisprudenz9 ist, die sich nach dem Mainstream richtet, sondern ihre Verankerung in der ureigenen Überzeugung des Autors hat. Die eigene Seele zu verkaufen und nur das zu schreiben, von dem man weiss, dass andere es von einem hören wollen10, das liegt dem Heinrich Honsell ferne. So lehnt er z.B. auch einen Schadenersatzanspruch für unerwünschte, aber gesunde Kinder ab, den das Bundesgericht kürzlich bejaht hat11. Oder er warnt davor, die Grenzen zwischen Vertrags- und Deliktsrecht zu verwischen, indem der blosse soziale Kontakt zum Haftpflichttatbestand erhoben werde.12 Wer so etwas tue, «öffne eine Büchse der Pandora mit zahllosen Haftpflichtfällen», was die gegenteilige Lehre übersehe. Dem einschlägigen Entscheid des Bundesgerichts zum Schätzer-Fall13 hält er entgegen, dass das höchste Schweizer Gericht eine «deutsche deliktserweiternde Vertragsfiktion von höchst zweifelhaftem Wert» übernehme, ohne sich überhaupt noch die Frage zu stellen, ob das Fehlen eines Deliktsanspruchs wirklich als Lücke und nicht vielmehr als vernünftige Haftungsbegrenzung im Rahmen der Privatautonomie zu qualifizieren sei.14

Ob diese Kritik dem abgefahrenen Zug noch eine andere Richtung zu geben vermag, ist höchst ungewiss, da die Evolution sich nur ungern von einem eingeschlagenen Lösungsweg abbringen lässt. Zumindest aber zeigt die Kritik auf, dass Heinrich Honsell die Funktion der Lehre nicht darauf beschränkt, höchstgerichtliche Urteile ungeprüft zu integrieren oder allenfalls das Blattwerk zu stutzen, wo es darum geht, das Unkraut mit den Wurzeln herauszureissen15. So wendet er sich z.B. auch gegen die Rechtsprechung zum zwingenden Charakter des Art. 404 OR, was mich besonders freut, habe ich es mir doch zur sisyphushaften Lebensaufgabe gemacht, diese Rechtsprechung zu bekämpfen. Oder er wendet sich, erst kürzlich wieder16, gegen die langjährige Praxis des Bundesgerichts, neben der gesetzlichen Sachmängelhaftung des Verkäufers alternativ die Berufung auf Grundlagenirrtum zuzulassen. Ohne stetig seine eigene Position zu bestimmen, kann eben auch Heinrich Honsell nicht leben, was jedoch nicht heissen will, dass er Neuem gegenüber undurchlässig wäre.

5. Dass Heinrich Honsell mit seinen Ansichten immer richtig liegt, will ich ihm nicht unterschieben. Denn wenn einer immer richtig liegt, dann muss man sich mit Hugo Loetscher fragen: Wo steht der überhaupt?17 Diese Frage aber erübrigt sich für Heinrich Honsell. Seine eigenen Standpunkte und die Standpunkte hinter seinen Standpunkten kommen in seiner Lehre deutlich zum Ausdruck. Nehmen wir nur das Beispiel von der Pandora-Büchse mit den zahllosen Haftpflichtfällen, die nach seinem Credo nicht geöffnet werden darf. Dahinter steht die Überzeugung, dass es nicht das Ziel der Rechtsordnung sein kann, den Menschen von seiner Eigenverantwortlichkeit zu befreien, was auf den ersten Blick eine Selbstverständlichkeit ist, sich aber doch abhebt von der Tendenz der heutigen Rechtsordnung, Schäden eines Betroffenen, kaum sind sie eingetreten, auf andere abzuwälzen.

Eine solche Tendenz, die durch einen intensiven Versicherungsschutz der Haftpflichtigen gefördert wird, steht in einem eigentümlichen Widerspruch zur fortgeschrittenen Individualisierung der heutigen Gesellschaft. Jedenfalls aber widerspricht sie ganz und gar der Grundauffassung von Heinrich Honsell. Als Jurist, der in seiner Jugend durch eine lateinische Ausbildung bei den Benediktinern gegangen ist, weiss er noch um den tradierten Rechtsgrundsatz «casum sentit dominus», was nicht von allen Rechtsgenossen behauptet werden kann. Das Letztere demonstriert z.B. auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Werkeigentümerhaftung, die sich im Laufe der letzten Jahre so sehr verschärft hat, dass sie höchstens noch durch die Haftung der Bergbahnen für die winterlichen Pistenunfälle18 übertroffen wird. Selbst der frühere Bundesrichter Hans Peter Walter spricht von einem «zeitgemäss wattierten Rechtsverständnis», wenn er schildert, wie die schweizerische Rechtsprechung «in einer zwar beleuchteten, aber nicht zusätzlich gekennzeichneten Stufe im Vorraum einer Hoteltoilette19, in einem durch einen Pflanzentrog abgegrenzten Nichtschwimmerbecken20 oder gar in einem natürlich gewachsenen Baum am Rande einer Skipiste21 haftungsbegründende Gefahrenquellen zu erkennen» glaubt.22 Und in der Tat: Wer wird da nicht an den Satz von Kurt Tucholsky erinnert, dass, wer hinfällt, nicht mehr aufsteht, sondern sich umsieht, wer ihm ersatzpflichtig sei.23

Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172 Es folgt Seite № 168Umsichtig war notabene auch jener Bauer, der bei einem Gefälligkeitsdienst, den er einem andern Bauern erbrachte, ohne Verschulden des andern von der Leiter fiel. Er sah sich um, verklagte den andern auf Schadenersatz und zieht den Fall bis vor das Bundesgericht, das die Gutheissung des Anspruchs in das Ermessen des Richters legt24. Unter Berufung auf Honsells Aufsatz über «die Risikohaftung des Geschäftsherrn»25 stützt das Bundesgericht sich auf ein allgemein gültiges Prinzip, wonach das Risiko schadensgeneigter, gefährlicher Tätigkeit von jenem zu tragen sei, in dessen Interesse und zu dessen Nutzen sie ausgeführt werde26. Und Heinrich Honsell wiederum gibt dem Bundesgericht Recht27, womit der Kreis geschlossen und zugleich dargetan ist, dass Honsell das Bundesgericht nicht nur kritisiert. Das Urteil «reflektiere (so Honsell) sachgerecht die unentgeltliche, altruistische, mit einem Risiko behaftete Tätigkeit». Seitdem ich diese Lehrbuchstelle bei Honsell gelesen und mich dementsprechend von der Richtigkeit des Urteils überzeugt habe, lasse ich mir unentgeltlich nur noch helfen, wenn mein Helfenlassen eine Hilfe auch für den Helfer ist, sodass jeder dem andern hilft und der reziproke Altruismus synallagmatisch haftungsbegründend wirkt.28

Vielfältige Publikationen

6. Mit den bisherigen Hinweisen auf die Lehre von Heinrich Honsell habe ich ein Gebiet betreten, das jedem Professor und jeder Professorin am Herzen liegt. Es ist das Gebiet der juristischen Schriftstellerei: ein sehr leidvoller Zeitvertreib, auf den Professorinnen und Professoren unendlich viele Stunden ihres Lebens verwenden, um trotz aller Anstrengung zu keinem Ende zu kommen, wie auf einer «Flucht ohne Ziel»29. – Lassen Sie mich nun meine Hinweise ergänzen, indem ich einen zwar nicht umfassenden, aber doch erweiterten Blick auf die Publikationen von Heinrich Honsell werfe.

a. Es wäre eine Todsünde, würde ich nicht dort beginnen, wo Heinrich Honsell begonnen hat: beim römischen Recht, unter dessen Herrschaft Cicero seine Reden hielt und Caligula ein Pferd zum Senator machte. In München studiert und bei Wolfgang Kunkel promoviert, war Heinrich Honsell schon «ab ovo» seiner juristischen Karriere mit dem römischen Recht verbunden. Dazu hat er im Laufe seines Berufslebens nicht nur Monografien bis hin zu einem ganzen Studienbuch geschrieben, sondern auch zahlreiche Aufsätze verfasst, um deren Brillanz ich ihn beneide. Selbst die römischen Juristen (Ulpian, Paulus, Gaius und Konsorten) können noch profitieren, wenn Heinrich Honsell «das periculum nominis im Dotalrecht», «die Kontribution nach der lex Rhodia de iactu», die «Analogie und Restriktion im römischen Recht», «das Gesetzesverständnis in der römischen Antike» oder gar das «Römische Zivilrecht» als Ganzes expliziert.30 Dass die Quellen, die er verwendet, von einer früheren Zeit erzählen, ändert nichts an der Bedeutsamkeit seiner Erklärungen. Denn erstens ist es allen Erklärungen eigen, dass sie die Vergangenheit durch die Gegenwart verwandeln31, weshalb schon die Gegenwart der altrömischen Interpreten die Vergangenheit verwandelt hatte. Und zweitens haben Texte aus sich heraus ohnehin keinen Sinn, so wenig wie Tannenbäume grün sind oder Eichenbäume rauschen. Aller Sinn kommt vom Interpreten, so wie der Betrachter es ist, der die Tanne grünt, und der Hörer, der die Eiche rauschen lässt.

Das ist eine Erkenntnis, die vermehrt auch in die juristische Methodenlehre einfliessen müsste, soweit sie sich mit der Interpretation der geltungszeitlichen Gesetze befasst. Den Sinn auch dieser Texte erfinden wir unablässig, obwohl unser Geist so beschaffen ist, dass er selbst diese Tatsache für uns verschleiert32. Oder um es anders und so auszudrücken, wie es Carlos Ruiz Zafón im «Schatten des Windes» ausdrückt: Texte «sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat»33.

b. Der zuletzt zitierte Satz gilt natürlich auch für mich, wenn ich Honsells Publikationen lese. Dass sie weit über das römische Recht hinausreichen, ist notorisch. Wir alle wissen, dass Heinrich Honsell eine vielfältige Literatur auch zum geltenden Recht produziert hat. Am besten kenne ich Honsells Lehrbücher zum schweizerischen Obligationenrecht: das schweizerische Haftpflichtrecht bei Schulthess34 und das grüne Stämpfli-Buch zum Besondern Teil des OR35.

Beide Lehrbücher sind in vielen Auflagen erschienen und gehören zur Standardliteratur der schweizerischen Rechtslehre. Sie werden häufig zitiert und an den Universitäten studiert. Von den 149 Honsell-Zitaten, die sich nur schon in den bundesgerichtlichen Urteilen seit dem Jahre 2000 finden36, bezieht sich ein erheblicher Teil auf die erwähnten beiden Lehrbücher. Und was die Studierenden betrifft, so weiss ich aus eigener Erfahrung, wie beliebt diese Bücher unter den Studenten und Studentinnen sind. Obwohl ich mir selber immer wieder Mühe gab, einen, wie ich dachte, effizienten und originellen Unterricht im Haftpflicht- und Vertragsrecht zu bieten, griffen die Studierenden, wenn die Examen nahten, bevorzugt auf Heinrich Honsells Lehrbücher. Die hohe Akzeptanz, die seine Bücher geniessen, verdanken sie der gekonnten Art und Weise, wie Heinrich Honsell den rechtlichen Stoff darbietet: fachkompetent, Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172 Es folgt Seite № 169nicht ausschweifend, aber das Wesentliche erfassend, stets verständlich, ohne sich hinter einer schwierigen bis unlesbaren Imponiersprache zu verstecken.

Es bedarf einer perfekten Durchsicht, um in den theoretisch durchwobenen Gedankengängen der Rechtslehre zu jener Einfachheit zurückzufinden, zu der Heinrich Honsell gefunden hat. Damit will ich in keiner Weise sagen, dass er zur Vereinfachung neigt, wo Differenzierung angezeigt ist. Denn differenziertes und einfaches Schreiben schliessen sich nicht aus, solange die Rechtswissenschaft nicht als komplexere Wissenschaft hingestellt wird, als sie zu sein braucht, um mit den komplexen Phänomenen der Lebenswirklichkeit fertig zu werden. Leben und Zusammenleben sind schon kompliziert genug, als dass man das lebensbezogene Recht noch komplizierter darstellen müsste. Um das zu begreifen und sprachlich umzusetzen, muss man freilich selber ein komplexer Mensch sein37, was sich von Heinrich Honsell mit Fug behaupten lässt.

c. Die Lehrbücher zum schweizerischen Obligationenrecht sind nicht alles, was Heinrich Honsell zum geltenden Recht publiziert hat. Hinzu kommen viele weitere Bücher und eine Vielzahl von Aufsätzen, die in Zeitschriften oder Sammelbänden erschienen sind. Dank Internet und Honsells Webseite konnte ich mir in allerkürzester Zeit eine Liste seiner publizierten Aufsätze verschaffen, die so vielfältig ist, dass ich ihr zunächst «kategorisch» zu Leibe rücken will:

Wenn ich richtig zähle und richtig unterscheide, betreffen 45 seiner Aufsätze das deutsche Recht, 43 das schweizerische Recht, 19 das österreichische Recht, drei das Europarecht, zwei das spanische Recht und mindestens ein Aufsatz das amerikanische Recht, wobei verschiedene dieser Beiträge auch rechtsvergleichenden und damit grenzüberschreitenden Charakter haben38. Nicht mitgezählt sind die Aufsätze zum römischen Recht, die schon erwähnt wurden.

Die nationale Disparität der Aufsätze setzt sich fort in der Verschiedenheit der Themenbereiche. Obwohl die Veröffentlichungen von Heinrich Honsell ihren Schwerpunkt im Privatrecht und darin wiederum im Schuldrecht haben, decken sie ein weites Feld von Fragen ab. Sie sind alles andere als eine Art von «Bolero», der in der berühmten Komposition von Maurice Ravel eine einzige Melodie und einen einzigen Rhythmus permanent wiederholt. Im Gegenteil: In Honsells Publikationsliste finden sich Beiträge nicht nur zum allgemeinen Schuldrecht, sondern auch zum Vertragstypenrecht, zum Haftpflichtrecht, zum Gesellschaftsrecht, zum Versicherungsrecht, zum Arztrecht, zum Bankenrecht, zum Sachenrecht, zum Eherecht, zum Recht der Zwangsvollstreckung usw., usw. Grundlegende Aufsätze (etwa zur Schuldrechtsmodernisierung in Deutschland)39 mischen sich mit raffinierten Beiträgen zu Einzelproblemen, z.B. zum Verzicht auf die Einrede der Verjährung, zur misslungenen Urlaubsreise, zur Sachmängelhaftung beim Neuwagenkauf oder zur Rückabwicklung sittenwidriger Darlehensverträge.40 Und selbstverständlich bleiben auch die Grundprobleme des Vertragsschlusses41 nicht aus dem Spiel. Der Vertragsabschluss ist ja ein bevorzugtes Exerzierfeld der Schuldrechtler, so wie die Taufliege (die Drosophila) das liebste Versuchstier der Molekularbiologie ist, weil sie sich leicht züchten und genetisch manipulieren lässt42.

Wird der Taufliege ein Gen der Glühwürmchen beigefügt, verabschiedet sie sich von der gewöhnlichen Fliege, um fortan wie ein Glühwürmchen zu leuchten. Wird dem Vertrag etwas Vertrauen beigemischt, verabschiedet er sich vom reinen Willensprinzip, um modifiziert durch das Vertrauensprinzip wieder aufzuscheinen: ein Vorgang, der in Heinrich Honsells Aufsatz über die Willens- und Erklärungstheorie43 nachzulesen ist. Darin allerdings kritisiert Heinrich Honsell die Art und Weise, wie die herrschende Lehre und Rechtsprechung der Schweiz das Verhältnis zwischen Vertragswille und Erklärung sehen, so wie er auch andere Heiligtümer der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung (z.B. das Prinzip der kausalen Tradition)44 kritisch in Frage stellt. Soweit ich selber von seiner Kritik erfasst werde, was nicht selten vorkommt, tröste ich mich mit einem Wort von Pablo Picasso, der gesagt hat: «Gäbe es nur eine Wahrheit, könnte man nicht hundert Bilder zum gleichen Thema malen».45

Deutscher Rechtskreis und Basler Kommentar

7. Mit der Malerei verhält es sich übrigens gleich wie mit der Jurisprudenz: Je weniger man davon versteht, desto tiefer empfindet man sie, weshalb es ganze Richtungen gibt, die nur davon leben, dass man nichts versteht46. Zum Glück hat sich Heinrich Honsell keiner dieser Richtungen angeschlossen. Dem deutschen Rechtskreis wäre viel verloren gegangen, hätte man nicht verstanden, was Honsell schrieb, – hätte er ein Deutsch geschrieben, wie wenn es seine Drittsprache wäre.

Ob es einen deutschen Rechtskreis überhaupt gibt, das wurde im Programmtext zum heutigen Symposium zwar mit einem Fragezeichen versehen, was mich aber verwundert. Denn selbstverständlich gibt es einen deutschen Rechtskreis. Der lebende Beweis dafür ist Heinrich Honsell, der in einer (seiner) Person das deutsche, österreichische und schweizerische Privatrecht verkörpert.

Man muss sich einmal vorstellen, was sich im Kopf des Heinrich Honsell abspielt, wenn er sich als «homo Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172 Es folgt Seite № 170cerebralis»47 eine Rechtsfrage stellt. Da werden gleichzeitig vier verschiedene Gehirnpartien aktiviert: die deutsche, die österreichische, die schweizerische und auch die römisch-rechtliche, die das Ganze verbindet. Das aber bedeutet, dass Heinrich Honsell, sobald und so lange er an Recht denkt, sich unvermeidlich und konstant im Zustand der Rechtsvergleichung befindet, ohne dass er der theoretischen Anleitung bedürfte, wie man Rechtsvergleichung praktisch betreiben muss, um sie akademisch richtig zu betreiben. Ausserdem ermöglicht die vierfache Aktivierung seines Gehirns, dass Rechtsgedanken von einem Gebiet zwangslos in das andere überwechseln, sodass ein harmonischer Austausch zustande kommt, wie er auf dem schönsten Seminar rechtsvergleichender Koryphäen kaum erreichbar ist. So verdanken wir Heinrich Honsell unter anderem auch, dass die eine oder andere Idee aus der schweizerischen Lehre und Rechtsprechung ins Ausland gelangt ist, was ihm hoch angerechnet werden muss, nachdem die schweizerische Rechtsprechung und Lehre, gemessen an ihren ausgedehnten Importen, an einem erheblichen Exportdefizit leiden.

8. Und noch etwas ganz Praktisches verdanken wir Heinrich Honsell. Es ist der Basler Kommentar. Kaum auf seinem Lehrstuhl in Zürich angekommen, hat Honsell mit der Planung dieses kompakten Kommentars zum schweizerischen Recht begonnen, um dann den Plan als Mitherausgeber in die Tat umzusetzen. Damit hat Honsell, der auch an verschiedenen Kommentaren in Deutschland als Herausgeber oder Autor mitwirkt, das Kommentarwesen in der Schweiz aktualisiert, revolutioniert und überdies popularisiert. Das Letztere in zweifacher Weise: Erstens wurde schon der Stoff des Basler Kommentars auf unzählige Bearbeiter verteilt, sodass von nun an das Kommentieren nicht mehr ein Privileg von nur ausgewählt wenigen war. Und zweitens hat Heinrich Honsell mit seinem Basler Kommentar den Startschuss zu konkurrierenden Kurzkommentaren mit wiederum unzähligen Bearbeitern gegeben, sodass die Schweiz dank seiner Initiative zum Land der fünfhundert Kommentatoren geworden ist. Wäre Heinrich Honsell nicht in die Schweiz gekommen, es gäbe hierzulande Hunderte unentdeckter Talente, die der Wissenschaft für immer verloren gingen.

Die Idee, den Basler Kommentar zu kreieren, war somit eine gute Idee. Und es war eine Idee in der richtigen Zeit, wie es der Erfolg beweist. So erscheint demnächst bereits die vierte Auflage des ersten Kommentar-Bandes (OR I), natürlich wiederum erweitert, was der Natur eines Kommentars entspricht, der wie die Packungsbeilage zu einem Medikament auf immer wieder neue Nebenwirkungen und Probleme hinzuweisen hat48. Diese vierte und erweiterte Auflage wird vom Verlag sogar in einer Lederedition «aus feinstem afrikanischem Ziegenleder, mit Goldprägung und wattiertem Umschlag» angeboten. Das mache, so schreibt der Verlag, «jeden einzelnen Band zu einem Hochgenuss für Hand und Auge», ja noch mehr: Die Handhabung des Basler Kommentars werde «zu einem sinnlichen Erlebnis, jeden Tag aufs Neue».49

Das ist ein gewaltiger Fortschritt. Endlich wird die schweizerische Kommentarliteratur zeitgemäss «versinnlicht», was ganz auf der Ebene der bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt, wonach die Triebe auch im Gebiete des Geistigen wirksam sind und sich eine Unterscheidung zwischen «geistesbestimmten» und «triebbestimmten» Gelüsten verbietet50. Ob ich mir selber eine Lederausgabe mit wattiertem Umschlag kaufen werde, will ich freilich nicht verraten. Nicht dass ich sinnlichen Erlebnissen abhold wäre! Doch zögere ich, Heinrich Honsell zu offenbaren, zu welchen Mitteln ich greifen muss, um meine «triebbestimmten Gelüste» zu befriedigen.

Kollege und Dozent

9. Bis anhin habe ich viel von Heinrich Honsells Literatur erzählt, was den Eindruck erwecken könnte, der Mann bestehe nur aus produzierter Literatur. Das stimmt natürlich nicht. Zwar ist seine Literatur Teil seiner Person, da es ja in der Literatur kein Inneres oder Äusseres gibt51, sondern alles, was geschrieben wird, die Person des Autors widerspiegelt. Umgekehrt aber ist die Persönlichkeit von Heinrich Honsell viel reicher, als dass sie sich durch sein Schrifttum einfangen liesse. Neben dem publizierenden gibt es auch den dozierenden, den kollegialen und den privaten Honsell.

a. Privat bin ich Heinrich Honsell nur selten begegnet, als Kollege etwas häufiger, wenn auch nicht in der ständigen Regelmässigkeit eines Fakultätskollegen. Bei allen Begegnungen aber überkam mich das wohltuende Gefühl, auf einen Menschen zu treffen, der den Mitmenschen wohlgesinnt ist. Seine verbindliche und ausgleichende Art hat mich tief beeindruckt, auch als er mir auf einen meiner unseligsten Vorschläge zurückschrieb, meine Anregung sei wohl als Scherz gemeint. Nie habe ich von Heinrich Honsell ein abschätziges Wort über irgendwen vernommen. Und nie habe ich erlebt, dass er sich oder seine Leistungen in den Vordergrund gerückt hätte, wie man es zu tun pflegt, wenn man ohne Widerhall bleibt. Der Widerhall war ihm ja gewiss.

b. Das positive Bild, das ich von Heinrich Honsell in mir herumtrage, deckt sich mit dem, was mir über seinen Unterricht in Zürich erzählt wurde. Er war, und da kann ich jetzt in der Vergangenheit sprechen, ein hervorragender und beliebter Dozent der Zürcher Rechtsfakultät. Leider war es mir selber nie vergönnt, eine seiner Vorlesungen zu erleben, da gegenseitige und gar interfakultäre Vorlesungsbesuche nicht zum Normalverhalten von Rechtsprofessoren gehören, die es gewöhnlich vorziehen, wie geschäftige Passanten aneinander vorbeizugehen. Ehemalige Schüler von Heinrich Honsell haben mir jedoch berichtet, wie sehr sie seine beruhigende Sicherheit und seine Ausstrah- Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172 Es folgt Seite № 171lungskraft geschätzt haben, ganz abgesehen von der juristischen Kompetenz des Lehrers. Schwierigkeiten hätten sich nie ergeben. Nur einmal sei es vorgekommen, dass er zwei Wochen hintereinander die gleiche Vorlesung für die gleichen Leute gehalten habe, was meines Erachtens eine gut erfundene Geschichte, in der Sache aber gänzlich ausgeschlossen ist. Denn wenn ein Mensch sich schon ausserstande sieht, den gleichen Laut zweimal hintereinander in gleicher Weise auszusprechen, wie sollte es dann ein Professor fertig bringen, zweimal die gleiche Vorlesung zu halten?

c. Die beruhigende Sicherheit, die von Honsells Zürcher Schülern geschätzt wurde, mag vielerlei Wurzeln haben, die aufzudecken eine Aufgabe der Psychologen wäre, wenn man ihnen denn vertrauen möchte. Ein Grund aber liegt gewiss darin, dass Heinrich Honsell erst nach Zürich kam, nachdem er in die Aufgabe des Professors bereits hineingewachsen war. Zuvor hatte er siebzehn Jahre lang an anderen Universitäten gelehrt, zunächst in Bielefeld und dann in Salzburg. Wer so eine Vergangenheit mit sich bringt, den kann im Unterricht nichts mehr verunsichern. Und so einer hat auch begriffen, dass die Studierenden nur dann etwas lernen, wenn ihnen die Dozierenden mehr zumuten als den Konsum magistral vorgekauter Geistesnahrung. Die Studierenden, die dies ebenfalls begriffen haben, waren zahlreich zugegen, wenn Honsell seine anspruchsvollen, aber verständlichen Vorlesungen hielt. Anders als Hegel wird Heinrich Honsell sich nie darüber beklagen müssen, dass er nur einen einzigen Studenten hatte, der ihn verstanden habe, und dass er von diesem einzigen noch missverstanden wurde52. Selbst wenn ihn alle Hörer und Hörerinnen missverstanden hätten, gäbe es immer noch zahlreiche Doktoranden, denen Heinrich Honsell sich mit Gewissheit «verständlich gemacht» hat, wie Max Keller, sein früher Zürcher Kollege, es zu formulieren pflegte53.

Lebenslauf, Abschied und ein Souvenir

10. Mit Zürich, Salzburg, Bielefeld habe ich drei verschiedene Etappen im Leben des Heinrich Honsell angesprochen, womit jetzt auch der Moment gekommen ist, seinen Lebenslauf etwas umfassender vorzutragen. Um dabei keinen Fehler zu begehen, folge ich der Beschreibung, die Heinrich Honsell auf der eigenen Webseite publiziert hat.

Danach ist Heinrich Honsell am 28. Juli 1942 in München geboren. Er ist deutscher und österreichischer Staatsbürger, Professor für schweizerisches und europäisches Privatrecht an der Universität Zürich und Honorarprofessor für Wirtschafts- und Handelsrecht an der Universität Salzburg. Seine juristische Ausbildung hat er in Deutschland absolviert, wo er sich 1972 bei Karl Larenz habilitierte. Im gleichen Jahr wechselte er an die Universität Bielefeld, wo er bis 1977 eine Professur für bürgerliches Recht innehatte. Von 1977 bis 1989 lehrte er an der Universität Salzburg Privatrecht und römisches Recht. Dann ging er an die Universität Zürich.

Sein Arbeitsgebiet umfasst, neben römischem Recht, das Privatrecht einschliesslich der Nebengebiete, insbesondere Gesellschafts-, Handels- und Versicherungsrecht. Er ist Autor von über hundert Publikationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er ist korrespondierendes Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Und von 1999–2003 war er auch Vorstand der Deutschen Zivilrechtslehrervereinigung.

11. Gestern, lieber Heinrich, hast Du nun Deine Abschiedsvorlesung an der Rechtsfakultät Zürich gehalten, der Du seit 1989 als prominentes Mitglied lehrend und forschend zugehörtest. Durch Deine Lehr- und Forschungstätigkeit in Zürich bist Du zwar nicht zu einem Schweizer geworden. Du wurdest nie helvetisiert, anders als in Österreich, wo man Dich austrifiziert hat. Wohl aber gehörst Du zu den bedeutenden Rechtswissenschaftlern der Schweiz, an deren Rechtsfakultäten seit jeher auch Gelehrte des benachbarten Deutschland gewirkt haben. Ich erinnere, um in die Vergangenheit zu blicken, nur an Bernhard Windscheid und an Andreas von Tuhr.

Dass Du, der Talentierte und der Jüngere, jetzt Deinen Zürcher Lehrstuhl altersbedingt räumen musst, während ich, der an Lebensjahren Ältere, an meiner Fakultät im Amte bleibe, ist in den Worten von Marie Theres Fögen «ein Skandal»54. Fast möchte ich mich dafür entschuldigen. Und ich täte es auch, wäre in der Entwicklungsgeschichte der Welt nicht ich der Jüngere; und wäre die Differenz, die uns altersmässig trennt, nicht so gering, dass wir echte Zeitgenossen sind. So haben wir denn auch gemeinsam erlebt, wie sich das Kräfteverhältnis zwischen den Geschlechtern bis hinein in die Vorlesungssäle verändert hat, wie das Informationszeitalter über die Rechtswissenschaft hereingebrochen ist, wie der juristische Büchermarkt (ähnlich dem Pillenmarkt) mit Generika überschwemmt wurde, wie Globalisierung und Privatisierung um sich gegriffen haben, wie das obrigkeitlich aufgezwungene Bologna-System die Studierenden zu Punktesammlern und die Dozierenden zu Punkteverwaltern gemacht hat und wie wir beim Betrachten der studierenden Jugend eines Tages begonnen haben, unser Leben vom Ende her zu sehen55.

Von einem «rasenden Stillstand», wie Paul Virilio eines seiner Bücher betitelt, kann jedenfalls nicht gesprochen werden, wenn wir die jüngere Vergangenheit an uns vorbeiziehen lassen. Sogar die Vertragstheorie scheint völlig neue Wege zu gehen, wenn sie mit Gunther Teubner versucht, den Vertrag ausserhalb des Konsenses zu rekonstruieren und als intertextuale Realität in die fragmentierte Gesellschaft der Neuzeit einzubetten.56 «Das Band der Schuld oder das Schuldverhältnis», so schreibt Jacques Derrida etwas rätselhaft, bestehe «nicht zwischen dem, der gibt, und jenem, dem etwas gegeben wird», vielmehr bestehe Aus der Zeitschriftrecht 4/2007 | S. 166–172 Es folgt Seite № 172«es zwischen zwei Texten (zwischen zwei ‹Erzeugnissen› oder zwei ‹Schöpfungen›)».57 Dem möchte ich trivialiter beifügen, dass das Vertragsrecht sicher auch den Güterfluss regelt, weshalb die Mächtigen sich dieses Rechts durch vorformulierte Verträge bemächtigt haben, deren Bedingungen auf ihrer Seite sind.

12. In einer derart bewegten Epoche, in der selbst das «vinculum iuris» mit einem neuen (intertextualen) Sinn belegt wird, nimmst Du, lieber Heinrich, Abschied von Deiner Zürcher Fakultät. Ich kann mir vorstellen, dass Dir der Abschied nicht leicht fällt, und vor allem auch, dass Du Dich im Nachhinein wunderst, wie rasch Deine Zürcher Jahre verflossen sind, die zu Beginn wie eine Ewigkeit vor Dir gelegen hatten.

Falls Du Dich eines Tages mit Marcel Proust auf «die Suche nach der verlorenen Zeit» begibst, so möchte ich Dir aus dem Erlebnishorizont eines Dritten sagen, dass Deine Jahre in Zürich keine verlorenen Jahre waren, sondern «Lichtjahre»58: nicht nur für die Zürcher Fakultät, sondern für die juristische Gemeinde der ganzen Schweiz und darüber hinaus. Das schweizerische Privatrecht wäre jedenfalls nicht so, wie es ist, wärest Du nicht zu uns gekommen. Dein Einfluss hat nachhaltig gewirkt und wird weiter wirken. Einige Deiner Sätze werden gewiss länger nachhallen als andere, so wie Ouvertüren oft länger leben als die Opern, denen sie zugehören59. Für alles aber, was Du uns gebracht und beigebracht hast, will ich Dir herzlich danken. Mein Dank ist umso grösser, als Dein Wegzug aus Salzburg mit einem erheblichen Nachteil verbunden war. Du hast Dich damit um die Chance gebracht, ein österreichischer Hofrat zu werden.

Mit meinem Dank nähere ich mich dem Ende meiner Laudatio, in der ich einiges gesagt und vieles ausgelassen habe. Ich beginne das Finale, wie ich die Lobrede begonnen habe, mit einem Zitat von Goethe, das da heisst: «Das Beste wird nicht durch Worte klar»60. So haben denn auch meine Worte nicht ausgereicht, um «das Beste» von Heinrich Honsell klarzumachen, ganz abgesehen davon, dass zum bereits «Besten» vielleicht noch Besseres hinzukommt. Diese Möglichkeit wage ich deshalb in Betracht zu ziehen, weil Heinrich Honsell nicht zu jenen gehört, die wie die Sizilianer bei Giuseppe Tomasi di Lampedusa glauben, vollkommen zu sein61. So sehr hat ihn der Professorenberuf nun doch nicht verwandelt.

13. Lieber Heinrich, Du hast von dem, was in Dir liegt, erst einen Teil verwirklicht. Für den Rest bleibt Dir die Zukunft. Auf dem Weg dorthin wünsche ich Dir viel Glück. Und uns allen wünsche ich, dass uns die Zukunft noch oftmals mit Dir zusammenführt. Denn Begegnungen bedeuten Leben, namentlich auch Begegnungen mit Dir. Ob wir uns in der Schweiz oder anderswo begegnen, macht keinen Unterschied.

Damit Du aber hin und wieder doch auch an Deine Lehrjahre in der Schweiz erinnert wirst, möchte ich Dir zum Abschied ein passendes Souvenir überreichen. Zunächst hatte ich an ein schweizerisches Armeemesser gedacht: mit 27 Klingen, einer Säge, einem Bohrer, einem Zapfenzieher, einer Lupe, einem Zahnstocher, einem Kompass, einem Höhenmesser und einer integrierten Tamiflu-Tablette. Dann aber kam mir in den Sinn, wie gefährlich ein solches Schweizer Messer nach dem «Gefühl aller billig und gerecht Denkenden» geworden ist, weshalb man es Dir auf dem Rückflug nach Salzburg abnehmen könnte, würde es versehentlich in Dein Handgepäck geraten. Um einen derartigen Verlust zu vermeiden, fiel meine Wahl auf etwas völlig Ungefährliches: auf einen Entscheid des Bundesgerichts, – natürlich nicht auf einen gewöhnlichen Bundesgerichtsentscheid, sondern auf den einzigen Bundesgerichtsentscheid, der Dir in Deinen Zürcher Jahren entgangen ist.

Der handschriftlich ausgefertigte Entscheid ist demnächst 100 Jahre alt. Er stammt aus dem Jahre 1907 und betrifft einen Streitfall, in dem die Mitglieder des Gesangsvereines Gruéria in Gruyères den später gegründeten Gesangsverein Gruéria im benachbarten Epagny auf Unterlassung der Namensführung, auf Herausgabe des Klaviers, der Vereinsfahne, des Vereinsvermögens und der Buchhaltung sowie auf die Bezahlung von 3000 Franken wegen unerlaubter Verwendung des Namens Gruéria und anderem verklagt hatten. Nachdem die Klage vor den Freiburger Instanzen zum Teil erfolgreich war, rekurrierte der beklagte Verein Gruéria von Epagny an das Bundesgericht, das aber auf den mangelhaft formulierten Rekurs nicht eintrat, weshalb es der Rekurrentin die Gerichtskosten von 30 Franken, die Versandkosten von 39 Franken und eine Kanzleigebühr von einem Franken überband.

Von diesem Entscheid, der in Siebnerbesetzung gefällt wurde, besteht eine Originalfassung, von der ich Dir zum Abschied ein Faksimile tradiere. Das Original, das ich selber geschenkt erhalten habe62, wird am unzugänglichsten Ort der Welt, in einem schweizerischen Banksafe, aufbewahrt. Sollte es dort in 2000 Jahren als Artefakt zum Vorschein kommen, so wären die dannzumaligen Rechtshistoriker in der Lage, hieraus die gesamte kontinentaleuropäische Rechtskultur des 20. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Wie sagt es doch der Kognitionspsychologe Ulric Neisser so trefflich: «Aus ein paar eingespeicherten Knochenstücken erinnern wir einen Dinosaurier»63.

  1. 1 Quelle: Google, de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe.
  2. 2 Quelle: Ludwig Hohl, Die Notizen, Frankfurt a.M. 1984, VIII, Nr. 120.
  3. 3 Dass es anderen Rednern ähnlich ergehen kann, ist bei Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 9. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, 9 f. nachzulesen.
  4. 4 An diesen Zusammenhang hat auch Odo Marquard (Zukunft braucht Herkunft, Stuttgart 2003, 188) erinnert, als er in seiner Laudatio für Loriot auf die «lausbübische Rolle» eines Laudators hinwies.
  5. 5 Jeremias Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude, 1850, 4. Kapitel.
  6. 6 BGE 120 II 331 ff.
  7. 7 BGE Pra 84 1995, Nr. 172, S. 556.
  8. 8 Christopher A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt, Frankfurt a.M./New York 2006, 25.
  9. 9 «Konventional-Jurisprudenz»: Eine spontane Wortschöpfung in Anlehnung an den Ausdruck «conventional wisdom», den John Kenneth Galbraith geprägt hat (siehe Galbraith, The Affluent Society, zweites Kapitel: «The Concept of the Conventional Wisdom»; dazu Levitt/Dubner, Freakonomics, 2. Aufl., München 2006, 124 f.).
  10. 10 Vgl. Carlos Ruiz Zafón, Der Schatten des Windes, Frankfurt a.M. 2003, 312.
  11. 11 BGE 132 III 359 ff.
  12. 12 Heinrich Honsell, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 4. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2005, 55 f.
  13. 13 BGE 130 III 345 ff.
  14. 14 Heinrich Honsell, Schweizerisches Haftpflichtrecht, a.a.O., 56 f.
  15. 15 Ausdrucksweise von Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte, 7. Aufl., München 2004, 317.
  16. 16 «Die Konkurrenz von Sachmängelhaftung und Irrtumsanfechtung – Irrungen und Wirrungen», SJZ 103 2007, 137 ff.
  17. 17 Hugo Loetscher, Lesen statt klettern, Zürich 2003, 380.
  18. 18 Z.B. BGE 126 III 113 ff.; 121 III 358 ff.
  19. 19 BGE 117 II 399 ff.
  20. 20 BGE 116 II 422 ff.
  21. 21 BGE 121 III 358 ff.
  22. 22 Hans Peter Walter, Psychologie und Recht aus der Sicht eines Richters, in: Psychologie und Recht, herausgegeben von Jörg Schmid und Pierre Tercier, Zürich 2000, 47 f.
  23. 23 Hans Peter Walter, a.a.O., 48.
  24. 24 BGE 129 III 181 ff.
  25. 25 Veröffentlicht in FS für Ulrich von Lübtow, Berlin 1980, 485 ff.
  26. 26 BGE 129 III 184.
  27. 27 Heinrich Honsell, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 8. Aufl., Bern 2006, 323.
  28. 28 Eingehender zum zitierten Urteil: Peter Gauch, Bauernhilfe: Drei Fälle und wie das Bundesgericht dazu kam, die Schadenersatzregel des Art. 422 Abs. 1 OR auf den Auftrag und die Gefälligkeit anzuwenden, in: FS für Paul Richli, Zürich 2006, 191 ff.
  29. 29 Mascha Kaléko, Mein Lied geht weiter, München 2007, 70.
  30. 30 Nachweise: Heinrich Honsell, «Das periculum nominis im Dotalrecht», SavZ Rom. Abt. 83 (1966) 365 ff.; «Ut omnium contributione sarciatur quod pro omnibus datum est – Die Kontribution nach der lex Rhodia de iactu», in: FS Wolfgang Waldstein, Stuttgart 1993, 141 ff.; «Analogie und Restriktion im römischen Recht – vom Wortlaut zum Sinn», in: FS Ernst A. Kramer, Basel/Genf/München 2004, 193 ff.; «Das Gesetzesverständnis in der römischen Antike», in: FS Helmut Coing I, Frankfurt 1982, 129 ff.; «Römisches Zivilrecht», recht 1987 33 ff.
  31. 31 Vgl. Stefan Klein, Zeit. Der Stoff, aus dem das Leben ist, Frankfurt a.M. 2006, 136.
  32. 32 Vgl. Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte, 7. Aufl., München 2004, 306.
  33. 33 Carlos Ruiz Zafón, Der Schatten des Windes, Frankfurt a.M. 2003, 250.
  34. 34 Heinrich Honsell, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 4. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2005.
  35. 35 Heinrich Honsell, Schweizerisches Obligationenrecht, Besonderer Teil, 8. Aufl., Bern 2006.
  36. 36 Stand: 21.6.2007.
  37. 37 «Wer Komplexität bewältigen will, muss selbst komplex sein» (Franz Reither, in: Bernhard von Mutius, Die andere Intelligenz, Stuttgart 2004, 173).
  38. 38 Ein Beispiel, das ich besonders gerne zitiere: «Arglistiges Verschweigen in Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung», in: FS Peter Gauch, Freiburg 2004, 101 ff.
  39. 39 Veröffentlicht in FS Jean Nicolas Druey, Zürich 2002, 177 ff.
  40. 40 Nachweise: Heinrich Honsell, «Der Verzicht auf die Einrede der Verjährung», VersR 1975 104; «Die misslungene Urlaubsreise», Jus 1976 222 ff.; «Sachmängelprobleme beim Neuwagenkauf mit Inzahlungnahme eines Gebrauchtwagens», JURA 1983 529 ff.; «Die Abwicklung sittenwidriger Darlehensverträge in rechtsvergleichender Sicht», in: FS Hans Giger, Bern 1989, 287 ff.
  41. 41 «Grundprobleme des Vertragsschlusses», Jus 1986 969 ff.
  42. 42 Vgl. dazu Stefan Klein, Zeit, Frankfurt a.M. 2006, 34.
  43. 43 «Willenstheorie oder Erklärungstheorie?», in: FS Hans Peter Walter, Bern 2004, 335 ff.
  44. 44 «Tradition und Zession – kausal oder abstrakt?», in: FS Wolfgang Wiegand, Bern 2005, 349 ff.
  45. 45 «S’il y avait une seule vérité, on ne pourrait pas faire cent toiles sur le même thème.» Quelle: http://www.evene.fr/citations/mot.php?mot=picasso&p=4.
  46. 46 Bezüglich der Malerei vgl. Dietrich Schwanitz, Bildung, München 2002, 378.
  47. 47 Vgl. dazu Michael Hagner, Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a.M. 2000. Soweit ich nachstehend die Funktionsweise des menschlichen Gehirns verkenne, hoffe ich auf die Nachsicht der Hirnforscher, die mit der Erforschung des Gehirns ja auch erst am Anfang stehen.
  48. 48 Vgl. dazu Michel Bartsch: «Mit Gesetzen ist es wie mit Medikamenten. Mit steigendem Alter werden bei Tabletten die Waschzettel, bei Gesetzen die Kommentare länger, denn das Wissen um die Probleme wird immer genauer. Man weiss wenigstens, was nicht in Ordnung ist» (in: Bernhard von Mutius, Die andere Intelligenz; Stuttgart, 2004, 244).
  49. 49 Buchprospekt von Helbing & Lichtenhahn.
  50. 50 BGE 71 IV 6.
  51. 51 So auch für die Kunst: Ludwig Hohl, Die Notizen, Frankfurt a.M. 1984, V, Nr. 6.
  52. 52 Quelle: Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte, 7. Aufl., München 2004, 143.
  53. 53 Der verstorbene Max Keller hat die «Auslegungsmethode des Sichverständlichmachens» erfunden (vgl. SJZ 57 1961, 314 ff., und SJZ 58 1962, 369 ff.), zu der dann sogar eine Dissertation (Esther Lange, Das Auslegungsprinzip des Sichverständlichmachens) in den Zürcher Studien zum Privatrecht (Nr. 13, 1981) erschienen ist.
  54. 54 In ihrer fulminanten Eröffnungsrede zum Symposium hat Marie Theres Fögen die Emeritierung von Heinrich Honsell als «Skandal» bezeichnet.
  55. 55 Vgl. dazu Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, Wien 2004, 78.
  56. 56 Vgl. Gunther Teubner, Vertragswelten, Rechtshistorisches Journal 17 1998, 234 ff.; Amstutz/Abegg/Karavas, Soziales Vertragsrecht: Eine rechtsevolutorische Studie, ZSR Beiheft 44 Basel/Genf/München 2006.
  57. 57 Zitiert bei Gunther Teubner, a.a.O.
  58. 58 Buchtitel von Volker Weidemann.
  59. 59 Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard, 16. Aufl., München 2001, 193.
  60. 60 Quelle: Ludwig Hohl, Die Notizen, Frankfurt a.M. 2000, V, Nr. 10.
  61. 61 Giuseppe Tomasi di Lampedusa, a.a.O., 218.
  62. 62 Ein Geschenk von Maître André Clerc, Freiburg, dem ich ausserdem eine Vorlesungsstunde verdanke, in der er die Erstjährigen meines juristischen Einführungskurses (im Abschnitt über die dunklen Seiten des Rechts) in das «Verfahrensunrecht» eingeführt hat.
  63. 63 Quelle: Stefan Klein, Zeit, Frankfurt a.M. 2006, 127.