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Aus der Zeitschriftrecht 3/2017 | S. 180–186Es folgt Seite №180

Judizieren contra legem

Eine Argumentation contra legem ist die «Todsünde» eines dogmatisch argumentierenden Juristen, namentlich von Richterinnen und Richtern. Sich von den Grenzen des geltenden Rechts lösende, rechtspolitische De-lege-ferenda-Erwägungen sind lediglich ausserhalb des dogmatischen Diskurses legitim, wobei allerdings zu betonen ist, dass eine trennscharfe Abgrenzung wegen der unscharfen Ränder der lex lata nicht möglich ist. Contra legem argumentiert, wer die ratio legis missachtet. Der Wortsinn, selbst der klare Wortsinn eines Normtexts, kann trügerisch sein und den «wahren Rechtssinn» nicht korrekt zum Ausdruck bringen. Daher sind teleologische Reduktionen, teleologische Extensionen und Analogieschlüsse, die sich vom klaren Wortlaut des Gesetzes lösen, aber die «Normsinngrenze» beachten, keine Beispiele des Argumentierens contra legem.

I. Grundsätzliches

1. Die «Todsünde» des Juristen

Contra legem, entgegen einer gesetzlichen Anordnung zu entscheiden, ist geradezu die Todsünde eines Richters, einer Richterin1, oder eines anderen rechtsanwendenden Organs, etwa einer Behörde, weil sie kraft Verfassung2 an die Gesetze gebunden sind. Dasselbe gilt aber – nicht aus rechtlichen Gründen, sondern kraft seiner Funktion – auch für den…

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